Wichtiger Rohstoff: Schokolade.
SPREEWELLE 191
ENERGIE
VÖ: 27.09.2022
Und plötzlich war die Sonne aus. Der Jahreszeitenwechsel schlug dieses Jahr besonders heftig zu. Ohne große Vorankündigung und mit all seiner Pracht knallt der Herbst in die Gemüter. Was wir jetzt mehr denn je brauchen ist: Energie!
NEVER
MISS A
THING!
Rührt Euch!
Zunächst ein Disclaimer: Die Spreewelle 191 versammelt nicht nur positive Energie. Es geht um Energie als Ganzes. Vielleicht auch um dunkle Energie. Um Energie als Gegenstück zur Trägheit. Aber Moment! sagt Ihr zurecht: Wer greift denn da so verallgemeinernd die Trägheit an? Deren attraktive kleine Schwester, die Faulheit, haben wir doch geradezu wollüstig abgefeiert die letzten drei Monate im Laubenliegestuhl. Stimmt. Aber ohne Vitamin D verfault die frohlockende Faulheit schnell zur wütenden Winterdepression. Und deshalb erzählt zumindest die erste Seite der 191 in 20 Kapiteln von Lebensfreude, von Unruhe, von Bewegung.
Wer kann besser positive Energie (mit der wir der Form halber beginnen wollen) als Phoenix? Eben. Keiner. Und genau deshalb startet der Sampler mit einer optimistisch-energischen Kollaboration, mit einer French Connection, wenn man so will. Phoenix meets Vampire Weekend. Indieherzen schlagen höher. Es ist übrigens die erste Teamarbeit der Band aus Versailles. Und eigentlich eine sehr gute Idee. Die Vocals von Thomas Mars und Ezra Koenig zerfließen in dem zweiten Vorgeschmack aufs im November erscheinende neue Album zu einer wunderbaren goldkehligen Melange. Das alles in einer spielerischen Phoenix-Komposition, die mit ihren langen repetitiven Strophen und dem dann endlich multimelodiös-strahlendem Refrain eher an „Alphabetical“ als an das 2017er „Ti Amo“ erinnert.
Ein hilfreicher Motor für den Antrieb, den wir in diesem Oktober bei augeschalteten Lichtschaltern ganz besonders benötigen, sind Freunde, auf die man sich verlassen kann. Und so gesellt sich gleich zu Beginn noch eine zweite All Time Lieblingsband in die Playlist. Death Cab For Cutie kann man nicht vorwerfen, dass sie seit ihren Klassikern „Plans“ und „Transatlantism“ nicht alle paar Jahre was für ihren Discographieeinträge auf Wikipedia getan hätten. Allein: So richtig zwingend war seit 2005 nicht mehr. Mehr „Cutie“ als „Death Cab“. Das scheint sich mit dem neuen Album „Asphalt Meadows“ geändert zu haben. Die Leadsingle prescht mit ungeheurem Druck auf die Straße. Im – Achtung – 10/8tel Takt wird sich Zeile um Zeile erst zum Refrain und dann zum noch terr-schmelzenden C-Teil gewunden. Mit genau der richtigen Portion Ecken und Kanten ist das der beste Track seit „Soul Meets Body“.
Allradantrieb ohne Abrieb
Das Bild der Straße passt auch zum Start der deutschsprachigen Beiträge, von denen es auf der 191 auffällig viele gibt. Kraftklub feierten noch im Frühsommer mit „1 Song reicht“ ein fulminantes und auch kommerziell erfolgreiches Comeback und gaben der 189 sogar ihren Namen. Nun haben sie sich tatsächlich mit Tokio Hotel ins Auto gesetzt. Ja. Mit Tokio Hotel. Bill Kaulitz und so. Das klingt erstmal haarsträubend. Ist auf der anderen Seite aber auch naheliegend. Beide Bands kommen aus dem Osten. Und teilen offenbar den Frust über die politische Meinungs- und Gemengelage in der ostdeutschen Provinz. Begleitet von hart arbeitenden 80s-Punk-Beats brettern sie im Lada Niva raus aus der piefigen Heimat. Wenn sie wirklich in Magdebug bzw. Chemnitz starten, hoffen wir, dass sie Geduld haben bis sie ihr Ziel erreichen, wenn es im Text heißt: „Doch irgendwann ist da eine Gegend / In der keine Fahnen in den Kleingartenanlagen wehen / Keine Regeln, Strafen und Gesetze / Außer so zu leben, dass Franz Josef Wagner was dagegen hätte“. Irgendwie irritierend, wenn der Kaulitz mit schmalziger Stimme kurz vorm Refrain Systemkritisches zum besten gibt. Aber irgendwie auch wahnsinnig gut. Tolle Nummer.
Endlich mal ein Lied über die Leute
Mit deutschem New Wave bzw. Post-Punk, der total undeutsch klingt geht es weiter. Edwin Rosen aus Stuttgart hat es bislang immer nur in die Vorauswahl der Spreewelle geschafft. Sein gerade veröffentlichtes „21 Nächte“ ist so energiegeladen, dass sein Platz auf der Playlist dieses mal gesichert ist. Wie das so ist, auf der Spreewelle zu sein, weiß Betterov aus dem effeff bzw. ovov. Denn ohne eine echte Langspielplatte in den Läden zu haben, wurde er mit seinen bisherigen Singles hier schon rauf und runter gespielt. Sein neuer Song „Die Leute und ich“ ist nun der offizielle Teaser aufs Album „Olympia“, das am 14.10. erscheinen wird. Wieder ein bravouröser Text. „Die Leute und ich / Wir haben ein schwieriges Verhältnis / Die Leute die sind / Eine Spezies für sich“.
Elon, Gisbert und Dan
Auch Von Wegen Lisbeth sind am Start und erzählen in „Elon“ von einer Begegnung mit dem Tesla-Gründer. Wo? Natürlich vorm Berghain. Da, wo der gute Elon eben leider nicht reinkam. Ein bißchen ernster, düsterer und ja – ggf. auch energieentladender geht es bei Husten zu. Die Kapelle um Gisbert zu Knyphausen hat mit „Aus allen Nähten“ ein musikalisch schlaues und textlich wunderschönes Album veröffentlicht. Wo wir gerade bei schönen Texten sind: Die kann in Deutschland ja grade keiner besser als Danger Dan. Da ein neues Album noch kein Thema ist (würd‘ aber auch eine längere Pause machen nach „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“), begnügen wir uns mit der Gemeinschaftssingle „Unsere Bank“, bei der DD die Band Provinz unterstützt. Auch hier gibt’s eine ganze Menge Schmalz, mein lieber Scholli. Aber auch schöne Harmonien.
Schrammeln bis zum Schluss
Weil es auf Seite 2 naturgemäß ein bißchen ruhiger zugeht, will ich hier zum Schluss noch drei Tracks der Seite 1 vorstellen. Ordentlich nach Leder und Zigaretten riecht der neue Track von The Gaslight Anthem. Die gibt’s auch schon seit 2006 – und ihr Rock (Ohne Indiebindestrich davor) klingt immer noch so einfach wie pointiert. Etwas leichtfüßiger, aber nicht weniger rockig ist der Beitrag von den Lieblings-Female-Indierockerinnen Soccer Mommy. Und auch Spreewelle Debütantin BROCKHOFF trägt eingängig und bewegend ihren Song „2nd Floor“ vor. Und macht mit seiner leichten Melodramatik fast Bock auf den Herbst.