Es gibt genau zwei Möglichkeiten als Dienstleister des guten Musikgeschmacks mit dem Wahnsinn der Welt umzugehen. Entweder den Kopf in den Sand stecken. Musik ausdrehen. Pause machen. Mit persönlicher Passivität der nachrichtlichen Aggresivität begegnen. Oder einfach so weitermachen. Trotz Eilmeldungen im Minutentakt. Als sei nix geschehen. Den Irrsinn da draußen da draußen lassen. Auch wenn das innere Pendel eher in letztere Richtung schlägt: So richtig richtig fühlt es sich nicht an diesen Juli 2016 mit einem Soundtrack der Sorglosigkeit zu belohnen. Da der Mittelweg verwuchert ist, hilft nur ein U-Turn. Umdrehen und mit Vollgas zurück zu besseren Zeiten. Am besten im DeLorean.
Denn das ist die dritte und einzige Möglichkeit: Bewusste Zerstreuung bieten, ein gezieltes Entfliehen. Dafür braucht es aber mehr als nur eine routinierte 40-Song-Playlist. Größeres muss her. Und so ist die 135. Ausgabe ein Konzeptalbum geworden. Und ganz nebenbei vielleicht das beste Konzeptalbum, das Ihr je auf dieser Welle gehört habt.
Der Rahmen
Netflix hat uns diesen Sommer ein Geschenk gemacht. Ein Geschenk in Form einer großartigen Mysteryserie inklusive Timetainment-Faktor. Wer „Stranger Things“ noch nicht gesehen hat, sollte dies unbedingt nachholen. Vollgestopft mit filmischen Referenzen und ausgestattet mit einem atemberaubend treffsicheren Soundtrack begeistert das Werk der Duffer-Brüder vor allem mit viel, viel Herz. Tatsächlich beschreibt ein im Kontext von TV-Suspense selten benutztes Wort die Miniserie am besten: Liebevoll. Das ist ein beruhigendes, ein schönes Wort. Und bildet metaphorisch die Klammer um die 40 Tracks.
Die ganz praktische Klammer für Seite 1 und Seite 2 bilden Fragmente der Titelsequenz. Komponiert von dem texanischen Synthpop-Duo S U R V I V E ist der Track „moody“ und „nostalgic“ zugleich – und damit der Perfect Fit für die „Stranger Things“ in Form der Tracklist.
Die Regeln
Damit ist der Raum bestellt, in dem sich über zweieinhalb Stunden ein reinrassiger Reigen an 80s Sounds breit machen kann. Doch dabei gibt es knallharte Regeln: Verboten sind „echte“ 80s Songs. Wer nicht genug von den Originalen bekommt, sollte bei Amazon rumlungern, bis der offizielle Soundtrack zur Serie erscheint. Das Konzeptkorsett gibt vor, dass die Interpreten der Titel aus der Neuzeit kommen müssen. Und, dass es sich bei den musikalischen Beiträgen nicht oder nur zu einem kleineren Teil um Cover handeln darf. Schon erstaunlich, wie schnell sich die 40 Tracks, die diesen Regeln gehorchen und obendrein (wichtigste Regel!) auch unter Nicht-Konzeptalbum-Vorgaben einen Platz auf der Spreewelle sicher hätten, gefunden haben. In der Vorauswahl waren es sogar rund 120. Ja, 120.
Die Songs
Alle Songs der Mottowelle haben also gut verargumentierbare Anknüpfungspunkte zu den 80er Jahren. Das ist ihnen gemein. Und doch sind sie ganz unterschiedlich. Bei genauer Beobachtung lassen sich mindestens sechs Arten voneinander unterscheiden. Eine kleine Songkunde.
Phänotyp 1: Die reinrassigen Analogen
Man könnte auch sagen: Die Ewiggestrigen. Eine nicht unerhebliche Anzahl an Künstlern macht heute Musik, als sei es 1984 – und hat damit Erfolg. Am ehesten sind diese Vertreter im Untersegment Synthie-Pop zu finden. Der analoge 1-Bit Sound aus der Video Game und VHS-Ära hat nie seinen Charme verloren. Ganz im Gegenteil: Je aufgemotzter und überarrangierter es in den aktuellen Charts zugeht, desto größer scheint die Sehnsucht nach analogen Minimalismus. Bands dieser Gattung tragen dann auch gern mal gleich den passenden Namen, wie z.B. Arcade High, deren „One Year Ago“ gleich die mystischen Synthies des Intros übernimmt, um sie mit Tempo und Harmonien – aber ohne Vocals – in hymnische Höhen treibt.
Auch Breakbot – ein alter Bekannter der Spreewelle – kann analog. Der französische Produzent ist ja eigentlich auf die Funk-Variante des French Disco abonniert. Auf seinem 2012er Album „By Your Side“ reduzierte er seinen Sound stellenweise drastisch. Was übrigblieb ist eine Art groovender Atari.
Phänotyp 2: Die Künstlich-Unterkühlten
Auch im Indiepop der Jetztzeit hat das glitzernde 80s-Gewand seinen festen Platz, auch wenn man es nicht immer gleich auf den ersten Blick erkennt. Das ganze Gedränge unter dem Label „Electronic Soul“ bedient sich oft und gerne den Oldschool Beats von damals. Die Kompositionen enthalten dann einen warmen, definitiv moderneren Bass und effektverstärkte Synthies. Diesem Hochglanz entgegen stehen dann aber die aus den Achtzigern entlehnten, plastikhaften Beats aus Bass- und Sneardrum. Das Ergebnis klingt cool und künstlich.
Phänotyp 3: Die elegischen Elektriker
Fast deckungsgleich mit vorangegangenem Artgenossen. Hier geht es aber weniger um die Beats – die sind frisch verputzt und top-frisiert. Vielmehr geht es um die grundpositive Stimmung dieses Sounds, der an die Eighties erinnert. Es sind im folgenden Beitrag vor allem die Synthies im Refrain, die genau diese Sorglosigkeit transportieren. Roosevelt gelingt mit „Fever“ übrigens schon der mindestens vierte Auftritt bei einer Spreewelle.
Ganz ähnliches Holz, ein bisschen weniger Brett: Great Good Fine OK, die nicht nur einen sehr guten Bandnamen haben, sondern mit „I’m Not Going Home“ die eben beschriebene gute Laune zur Hymne erheben.
Phänotyp 4: Die respektvollen Remixer
Der typische Popsong der 80er war entweder eine Ballade oder kam im Uptempo daher. Dazwischen gab’s nicht all zu viel. Behaupte ich einmal. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass sich DJs nur eher selten ans Remixen dieser Songs machen. Zwei gute Beispiele, bei denen das jeweilige Original nicht geschändet, sondern sinnvoll in die Moderne übertragen wurde, finden sich auf Seite 1.
Phänotyp 5: Die verkleideten Verträumten
Auch wenn Original-Songs aus der Ära heute selten geremixt werden, in Neuinterpretationen aktueller Songs findet sich der 80er-Sound häufig als Stilmittel. Hall auf die Stimme, echte Instrumente löschen, die frei gewordenen Spuren mit Synthies auffüllen, fertig ist der bekannte Song in Geschmacksrichtung „80s“. Einzige Voraussetzung: Das Lied braucht einfache, aber schöne Melodien. Denn so funktionierte das 1984.
Phänotyp 6: Die coolen Cover
Die 80er – das Jahrzehnt hat aus Musikersicht nicht den besten Ruf. Kitsch und Kommerz gebaut aus Plastik und Puffreis – alles hohl und hilflos. Wer den Pop der achtziger Jahre beschreibt, findet kaum schöne Worte. Na klar: Der Pop der 80er war politikfrei. Er war oberflächlich. Er kümmerte sich nur ums Gefühlige. Der Pop der 80er war Eskapismus pur. Und genau deshalb tut er auch in diesen Tagen so gut.
Drei Coverversionen auf Seite 2 zeigen, dass die 80er bei aller Hiebe auch einfach großartige Songs geboren haben.
Auf bessere Zeiten.
Cover: Ballhaus Berlin / Spreewelle Things
Cover-Location: Berlin Mitte
- Survive – Stranger Things Main Theme (Intro 1)
- Arcade High – One Year Ago
- City Calm Down – Sense Of Self
- Breakbot – Programme
- Huon Kind – Feel Like This (7″ Version)
- Harts – Lovers In Bloom
- Tears For Fears – Shout (PINEO Remix)
- Kate Bush – Running Up That Hill (Louis La Roche Remix)
- Roosevelt – Fever
- Lisbon – Native
- Great Good Fine Ok – Not Going Home
- Men I Trust – Lauren
- Honne – Good Together
- Crystal Bats – Falling In Love
- Futurecop! – Superheroes (feat. Kristine)
- LANY – Where The Hell Are All My Friends
- King Midas – You Know My Name
- Priest – Strong Hearts
- Belle Mare – How Much Longer
- Lene Lovich – I Think We’re Alone Now
- Minks – Margot
- Survive – Stranger Things Main Theme (Outro 1)
Seite 2
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- Survive – Stranger Things Main Theme (Intro 2)
- Daft Punk – The Game of Love
- Noble Oak – All I Said
- Story Of The Running Wolf – Stratospheric (Lost Years Remix)
- Electric Youth – The Best Thing
- Sean Nicholas Savage – She Looks Like You
- I Am Dynamite – In The Summer
- Sex On Toast – Hold My Love
- Huon Kind – Stay The Same
- Gabrielle Aplin – That’s All
- Tourist Dollars – End Of Times
- Andy Shauf – Quite Like You
- Work Drugs – My Billie Jean
- Gizmo Varillas – Give A Little Love
- Bootstraps – I Wanna Dance With Somebody (Whitney Houston)
- The Wind & The Wave – Time After Time (Cyndi Lauper)
- Aron Wright – Home
- Maggie Rogers – Symmetry
- Sam Smith – How Will I Know
- Sleeping At Last – Every Little Thing She Does Is Magic (The Police)
- Tyler Lyle – Lost & Found (The Midnight Remix)
- Survive – Stranger Things Main Theme (Outro 2)